Was Unternehmen jetzt brauchen, ist ein besonderes „Lebensfähigkeits-Gen“.
Wir neigen alle sehr gerne dazu, uns über vergangene Ereignisse, die wir nicht mehr verändern und beeinflussen können, tagelang den Kopf zu zerbrechen. Es hilft nichts zu fragen, warum wir dies oder jenes nicht oder nicht rechtzeitig gemacht haben, sondern schnellstmöglich die entscheidenden Fragen dahingehend zu beantworten, was im Sinne eines positiven Nach-vorne-Denkens und Überlebens entwickelt werden muss.
Dabei ist die Zeit der visionsgetriebenen, planorientierten Managementlehre und -ausbildung, ausgehend von der Analyse hin zu definierten Visionen und Zielen bis zu den abgeleiteten Maßnahmen ist, aktuell kaum erfolgversprechend.
Zu viele Parameter haben sich in hochkomplexen Zusammenhängen regelrecht chaotisch verändert und sind weder greifbar noch planbar. In Zeiten massiver Unsicherheit ist ein wohlüberlegtes und pragmatisches Fahren auf Sicht die einzig greifbare Lösung. Unser Denken muss von den verfügbaren Ressourcen ausgehen und daraus pragmatisches Handeln entwickeln und ableiten. Nur worüber wir sicher verfügen können, kann eine stabile Basis für Handlungsentscheidungen sein.
Dabei müssen wir auch bedenken, inwieweit wir investieren bzw. welche Verluste wir uns in nächster Zeit leisten können bzw. müssen, um Notwendiges zu tun und attraktive Chancen zu nutzen. Gerade jetzt ist es vielleicht möglich, auch Ressourcen zu akquirieren, die bis vor kurzem undenkbar gewesen wären. Jedes Unternehmen muss prüfen, was derzeit erreichbar und leistbar ist, wobei sich durchaus neue und ungewöhnliche Partnerschaften und Geschäftsbeziehungen eröffnen können, um aus vorhandenen Ressourcen neue Möglichkeiten zu schöpfen. Auf den ersten Blick wenig naheliegende Konstellationen können dazu führen, aktuelle Probleme aus Vorhandenem in neuer Kombination und mit neuen Philosophien und Blickwinkeln zu lösen und etablierte Strukturen zu hinterfragen, ja regelrecht zu disrumpieren.
Gerade ein schlechtes Ereignis kann Neues entstehen lassen. Gewinner werden dies sein, die mit hoher Kreativität daraus nutzen erschaffen können. Not macht erfinderisch, Corona die Unternehmen innerlich stärker, und setzt verborgene technologische Kreativitäts- und Effizienz-Potenziale frei.
Ich sehe die aktuelle Situation vor allem dahingehend positiv, dass wir mit unnötigem Ballast und unnötigen Strukturen oder eingefahrenen Konstellationen nach dem Motto „Das haben wir schon immer so gemacht“ endgültig aufräumen werden und müssen. Soziale Kontaktsperren zeigen uns rigoros unsere Defizite z.B. im Bereich der Digitalisierung ebenso wie auch die möglichen Chancen und nutzen Bereiche auf.
Das sogenannte „Knowing Doing Gap“ führt uns Defizite vor Augen, die wir möglicherweise bereits wussten aber aus irgendwelchen Gründen schlichtweg nicht ernst genommen und gelöst haben haben.
Die Corona-Krise wird dieses Wissen/Tun-Gap offen legen: Wirtschaft und Wirtschaften kann auch in vielen Bereichen ohne aufwendige Immobilien, Verwaltungsprozesse und Assets stattfinden, online und vom Homeoffice und dennoch oder gerade wieder effizient die Kundenbedürfnisse bedienen.
Was brauchen wir aktuell?
- Kapitän-artige Führung: Mut und Verantwortung zur Entscheidung, klare Ansage und Machen. Es ist keine Zeit für lange Diskussionen. Jetzt muss das Ruder in besonnene, erfahrene Hände.
- Ruhe bewahren, mit Kalkül und Intuition Orientierung geben. Jede glasklare Entscheidung ist besser als keine.
- Nichts beschönigen. Mut zur Wahrheit und Offenheit. Nur wenn wir dem Stier in die Augen sehen, können wir mit ihm umgehen.
- Laufende Informations-Aktualisierung. Reden. Dies mindert Angst.
Unabhängig davon brauchen Unternehmen eine Lebensfähigkeits-Basis, d.h. eine strategische Position, die die Zukunft sichert.
Was sich in der Krise ganz brutal zeigt und offenbart, ist eine längst verschlafene Positionierung in „strategisch relevanten Märkten„. Unternehmen haben sich als scheinbar führend in „Märkten“ angesehen, die es so nicht mehr gibt bzw. längst auf dem Weg zur Transformation in andere Konstellationen sind. Ich mache diese seit Jahren meinen Studenten an einem Bild klar: „Stellen Sie sich vor, Sie sind der beste Tennisspieler(in) eines Clubs, mehrfach in Clubmeisterschaften erfolgreich. Auf dem Tennisplatz fühlen Sie sich zu Hause und sind überzeugt, alle Techniken und Taktiken zu beherrschen. Über Nacht kommt eine Fee und tauscht den Tennisplatz gegen einen Golfplatz aus. Am anderen Morgen wachen Sie darauf auf, schauen sich verwundert um. Sie können darauf jetzt nun im vielartiger Weise reagieren: die Veränderung nicht wahrhaben wollen und weiterhin – mit wenig Erfolg – die gelbe Filzkugel und ihren Schläger nehmen und versuchen, nun auf dem Golfplatz mit einem Aufschlag zu punkten; resignierend aufgeben; überlegen, wie sie in kürzester Zeit sich dem neuen Umfeld anpassen und umlernen. Leider gibt es viel zu viele Unternehmen, die entweder nicht merken oder es nicht wahrhaben wollen, dass sich ihr Spielfeld fundamental geändert hat und ihr Spiel nicht mehr für einen nachhaltigen Unternehmenserfolg passt.
„Lebensfähigkeit“ ist dabei die Relation von „Komplexität“ zum Produkt aus „Agilität“ und „Robustheit“! Je höher die Komplexität und je geringer Agilität x Robustheit eines Systems, desto größer werden die Risiken für die Steuerbarkeit und Lebensfähigkeit eines Unternehmens. Genau dies ist bei vielen Betrieben in der aktuellen Corona-Krise der Fall.
Gehört Ihr Unternehmen zu denen, die sich im Modell oben mindestens bei AB oder BB oder besser AA oder BA einstufen können? Ich helfe Ihnen gerne bei einer Einstufung Ihrer Organisation. Rufen Sie mich an oder schreiben Sie mir.
Betrachten wir die Begriffe näher:
Ein System ist dann „komplex“, wenn die Informationsqualität der Interdependenzen zwischen seinen Systemparametern die Fähigkeit zu Überraschungen und zu unerwartetem Verhalten beinhalten und nicht linear logisch planbar sind. „Komplexität birgt immer Unsicherheit und schwierige Prognostizierbarkeit, die mit der Vielzahl der die Beziehung bzw. der das System beeinflussenden Variablen und deren Wirkungsvielfalt bis hin zum Chaos zunimmt. Die Vorhersehbarkeit der Verhaltensweisen von Systemfaktoren und deren Beziehungen werden mit wachsender Komplexität immer geringer. Und je geringer die Möglichkeit einer klaren Bestimmung von Verhaltens-Szenarien und deren möglichen Auswirkungen, desto größer werden die Risiken einer Beziehung oder eines Systems. Damit stehen auch Komplexität und Risiko in engem Zusammenhang“.[1]
Dennoch bedeutet Komplexität nicht per se „Risiko“, denn auch und gerade die Komplexität bietet aufgrund der Vielfalt der Varietäten und der hohen Entropie große Chancen der Entfaltung und Neukombination und –organisation. Ohne Komplexität gäbe es keine Innovation und Evolution, denn gerade die nichtlinearen Informationen eines Systems können sich neu kombinieren und auf anderem Niveau neue Strukturen und Botschaften schaffen.
„Agilität“ ist die Fähigkeit eines Systems, flexibel, anpassungsfähig und initiativ mit Veränderungen und Unsicherheiten umzugehen. Das Konzept der Agilität stammt ursprünglich aus dem Bereich der Produktion und wird heute oft als Quelle für Wettbewerbsvorteile genannt.[2] Der Ökonom Richard Pascale hat die Idee der Agilität genauer untersucht. Seiner Meinung nach liegt der Schlüssel für Agilität im Wesen der Organisation und nicht so sehr in dem, was sie tut.[3] Laut Richard Pascale gilt es, ein Unternehmen wie einen lebenden Organismus zu führen, wenn man es am Leben erhalten will. Agilität ist jedoch nicht mit Aktionismus zu verwechseln. Keineswegs sind – wie oft missverstanden – Systeme ständig im Wandel, sondern sie suchen vielmehr immer wieder einen stabilen Systemzustand ggf. auf einem anderen bzw. höheren Niveau. Speziell in turbulentem Umfeld erwachsen für ein Unternehmen Risiken aber auch Chancen, die es zu vermeiden bzw. zu nutzen gilt. Donald Sull hebt vor allem die Agilität als eine der wichtigsten und zentralsten Eigenschaften der Strategieentwicklung beziehungsweise Strategieanwendung in derart volatilem Umfeld hervor. Donald Sull unterscheidet drei Arten von Agilität: Die Strategische Agilität trifft eine Aussage darüber, inwieweit ein Projekt in der Lage ist, bedeutende, übergeordnete Chancen rasch zu identifizieren und zu realisieren. Die Portfolioagilität misst, wie schnell und effektiv zum Beispiel ein Projektprogramm Ressourcen von wenig versprechenden Projekten in Erfolg versprechende Projekte verlagern kann. Die Operative Agilität ist die Fähigkeit, innerhalb eines bestehenden Projekts permanent Chancen zur operativen Verbesserung schnell zu identifizieren und umzusetzen.[4]
„Robustheit“ ist als Counterpart der Agilität die Fähigkeit eines Systems, seine Funktion auch bei Schwankung der Umgebungsbedingungen aufrecht zu erhalten, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Robustheit ist eine spezifische Unempfindlichkeit, Absorptionsfähigkeit oder auch Regenerationsfähigkeit gegenüber bestimmten Einflüssen, Entwicklungen und Störungen. Praktisch an einer „denkenden“ Fahrzeugstoßstange vorstellbar, die z.B. bis 5 km Stöße nicht nur klaglos absorbiert sondern sich durch intelligente Kunststoffe sogar ohne Beschädigungsspuren regeneriert. Darüber hinaus bildet sie zusammen mit der Sicherheitskarosserie ein hochgradig energieabsorbierendes System. Damit stellt die Robustheit im Sinne der Absorptionsfähigkeit eine vor allem strukturelle Kompetenz eines Systems dar, Umfeldveränderungen zu trotzen bzw. sich ihnen intelligent anzupassen. So kann hohe Liquidität Robustheit oder ein diversifiziertes Portfolio eine gegenseitige Absicherung der Geschäfte bedingen oder – wie die Krise zeigte, eine bestimmte kritische Unternehmensgröße dazu führen, dass Rettungsschirme aufgebaut werden, weil es politisch unvertretbar wäre, das Unternehmen scheitern zu lassen.[5]
Quellen:
Unternehmensführung: State of the art und Entwicklungsperspektiven, Festschrift für Richard Hammer 2012. Mit dem „Strategie-Würfel“ veröffentlichte Christoph Schließmann 2012 in seinem Beitrag „Die neue Dimension strategischen Denkens“ zur Festschrift „Unternehmensführung: State of the art und Entwicklungsperspektiven“ ein Unternehmensführungsmodell, das auf der U-Kurve von Michael Porter aufbaut und diese unter Einbezug des Faktors „systemische Lebensfähigkeit“ weiterentwickelt.
[1] Schließmann, Christoph, Interdependency, 2010, S. 39
[2] Vgl. Sull, Donald, The Upside Of Turbulance, New York 2009, S. 133 ff sowie http://www.onpulson.de/lexikon/107/agilitaet/ 14.04.11, Sull, Donald, The Upside Of Turbulance, New York 2009, S. 133 ff
[3] Vgl. http://www.onpulson.de/lexikon/107/agilitaet/ 14.04.11
[4] Sull, Donald, The Upside Of Turbulance, New York 2009, S. 137 ff
[5] Sull, Donald, The Upside Of Turbulance, New York 2009, S. 218-227