Gedanken zur Jahreswende 2024/2025 – Die Langsamkeit als Gegenmodell zur Rastlosigkeit

Der Übergang von einem Jahr ins nächste ist nicht nur ein Wechsel im Kalender, sondern eine Gelegenheit, die Ströme unserer Zeit zu betrachten: die Vergangenheit, die uns geformt hat, die Gegenwart, die uns prägt, und die Zukunft, die wir gestalten wollen. Am Ende des Jahres 2024 stehe ich an dieser Schwelle und spüre, wie der Pulsschlag der Welt sich beschleunigt hat – ein Rausch aus Technologie, Geschwindigkeit und ständiger Verfügbarkeit. Doch während der Fortschritt uns scheinbar beflügelt, frage ich mich: Wo bleibt die Tiefe, die Reflexion, das Fühlen?

Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit und Elif Shafaks Appell zum Wiedererlernen der Langsamkeit in ihrer Rede auf der Frankfurter Buchmesse 2024 leiten meine Gedanken. Beide fordern uns auf, innezuhalten, eine Pause zu wagen, um zu fragen: Wohin führt uns diese Geschwindigkeit? Und wie können wir das Menschsein bewahren in einer Welt, die rastlos voranschreitet?


Die analoge Welt: Tiefe als Prinzip

Die Welt, in der ich aufwuchs, hatte ihren eigenen Takt. Als Kind der analogen Ära lernte ich, dass gute Arbeit Zeit braucht, dass ein Gedanke reifen und eine Idee durchdrungen werden muss. Meine ersten Werkzeuge waren Bleistift und Radiergummi, und sie lehrten mich, dass das Löschen von Fehlern kein Versagen ist, sondern ein natürlicher Teil des Prozesses.

In den frühen Jahren meines Berufslebens waren Sorgfalt und eine gewisse Langsamkeit nicht nur ein Zustand, sondern ein Prinzip. Als Referendar in einer größeren Anwaltskanzlei begann der Tag Ende der 80er oft mit einem Mandanten, der im Wartezimmer Platz nahm. Ein ausführliches Gespräch eröffnete dann den Fall und das Mandat, danach folgte eine Phase des Nachdenkens und der Recherche. Schriftsätze wurden diktiert, überarbeitet, ins Schreibbüro gegeben, zurückerhalten, erneut geprüft, überarbeitet und wieder geschrieben – eine Abfolge von Schritten, die Raum für Präzision und Nachdenken ließ. Die Langsamkeit war nicht ineffizient; sie war notwendig, um Komplexität zu bewältigen und Qualität zu gewährleisten. In Zeiten des Diktiergerätes bevorzugte ich immer noch Bleistift und Radiergummi, weil ich damit schneller und flexibler umgehen konnte als mit einem Diktiergerät, vor allem wenn es dann Tage dauerte, bis im Schreibbüro die Bänder in Text umgesetzt waren. Dort lag aber der zu lösende Engpass. Ich fand es unproduktiv, mein “Geschreibsel” nicht rasch wieder vor mir zu haben, um es zu reflektieren und weiter entwickeln zu können. Selbst meine 600 Buchseiten-Doktorarbeit entstand 1986 im Entwurf mit Papier, Bleistift und Radiergummi und wurde dreimal mit einer IBM Kugelkopf geschrieben, bis sie eingereicht und später im Fischer-Verlag als Buch veröffentlicht wurde.

Ich begegnete in den 90ern Sten Nadolny persönlich, dessen Romanheld in “Die Entdeckung der Langsamkeit”, John Franklin, genau diese Haltung verkörpert. Seine Langsamkeit wird oft missverstanden, doch sie gibt ihm die Fähigkeit, in einer Welt der Eile tiefer zu sehen, komplexer zu denken und klüger zu handeln. Auch wir, damals, schätzten diesen Raum der Reflexion, der im Takt der analogen Welt selbstverständlich war.


Die digitale Revolution: Fortschritt und Beschleunigung

Die 1990er Jahre brachten den Computer, und mit ihm begann eine neue Ära: Der IBM PC, die ersten Apple, die Anfänge von Windows. Die ersten Textverarbeitungsprogramme revolutionierten meine Arbeit. Endlich ein nutzvoller Ersatz für Bleistift und Radiergummi! Gedanken konnten schneller notiert, überarbeitet, neu geordnet werden. Der Bildschirm wurde zur neuen Schreibfläche, und der Takt der Arbeit wurde flexibler – aber auch schneller. Ich liebte es und war schnell Pionier im Anschaffen verfügbarer, aber damals noch extrem teurer Technologie. Laserdrucker und Scanner kosteten ein kleines Vermögen. Aber meine Anfang der 90er gegründete Kanzlei hatte, als andere noch diktierten, alles, was dem Stand der Zeit entsprach – und das ist heute noch der Innovationsanspruch. Mein Team lernte effizient mit diesen Tools zu arbeiten. Jeder für sich selbst. Die Produktivität stieg massiv und ein Schreibbüro war von Anfang an tabu.

Die digitale Revolution war ein Fortschritt, der vieles erleichterte. Kommunikation per Fax und ab der Jahrtausendwende per eMail beschleunigte Prozesse, und die Möglichkeiten schienen grenzenlos. Doch mit der neuen Geschwindigkeit kamen erste Schatten. Die Zeit, die früher zum Nachdenken blieb, wurde kürzer. Antworten wurden schneller erwartet, und die Multitasking-Mentalität begann sich einzuschleichen. Wenn sie heute ein eMail nicht innerhalb weniger Stunden beantworten, erhalten sie empört Mahnungen.

Trotz aller Vorteile der digitalen Werkzeuge stellte sich eine leise Frage: Wird die Geschwindigkeit zur neuen Priorität? Und was geschieht mit der Tiefe, die wir einst so schätzten?


Die Ära der KI: Geschwindigkeit ohne Atempause

Heute, in der Ära der Künstlichen Intelligenz, hat die Geschwindigkeit eine neue Dimension erreicht. KI erledigt Aufgaben in Sekunden, analysiert Daten, generiert Texte, gibt Entscheidungshilfen. Sie ist allgegenwärtig, still und effizient – ein Werkzeug, das uns unterstützt, aber auch fordert. Die Welt hat sich in einen ständigen Strom aus Informationen, Aufgaben und Erwartungen verwandelt.

Doch in dieser Hypergeschwindigkeit bleibt kaum noch Raum für das Wesentliche. Das ständige Wischen, Scrollen und Springen von einer Aufgabe zur nächsten zersplittert unsere Aufmerksamkeit. Reflexion wird zum Luxus, Gefühle zur Randerscheinung. Die KI, die uns eigentlich befreien sollte, droht uns zu versklaven, wenn wir sie unreflektiert nutzen.

Elif Shafak hat dies in ihrer Rede auf der Buchmesse 2024 eindringlich formuliert: Sie fordert, dass wir die Langsamkeit wiedererlernen. Sie beschreibt Langsamkeit nicht als Rückschritt, sondern als revolutionäre Haltung in einer überhitzten Welt. Ohne die Zeit, zu fühlen, zu verarbeiten, zu reflektieren, verlieren wir nicht nur die Kontrolle über die Technologie, sondern auch über unser Menschsein.


Die Balance: Technologie als Diener, nicht als Herr

Die zentrale Herausforderung unserer Zeit liegt in der Balance. Es geht nicht darum, die Vorteile der Technologie zu verleugnen. Die Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, sind mächtig. Sie können uns effizienter machen, Lösungen schneller finden, neue Horizonte eröffnen. Aber sie dürfen nicht zum Selbstzweck werden. Wir müssen lernen, die Technologie bewusst einzusetzen – als Diener, nicht als Herr.

Wie vermeiden wir, dass die Technologie uns beherrscht? Es beginnt mit der Rückeroberung der Zeit. Wir müssen uns bewusst Räume schaffen, in denen Langsamkeit ihren Platz hat. Diese Räume sind keine Rückzugsorte aus der Moderne, sondern Orte, an denen die Tiefe der Reflexion und die Kraft der Kreativität wachsen können.

  • Grenzen setzen: Wir müssen klare Trennlinien ziehen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Verfügbarkeit und Rückzug.
  • Prioritäten setzen: Nicht alles gleichzeitig tun, sondern bewusst entscheiden, was wirklich wichtig ist.
  • Rituale der Langsamkeit pflegen: Ein Buch lesen statt zu scrollen. Einen Gedanken zu Ende denken, bevor der nächste beginnt.

Wenn ich heute etwas tiefer durchdringen oder einfach Genuss am Lesen interessanter Gedanken haben möchte, ist das analoge Buch immer noch meine erste Wahl. Ich kann in Ruhe den Moment wählen, im Sessel mit einem Drink Stellen mehrfach lesen, mir nur Teile oder Kapitel raussuchen und mich damit aber wirklich auseinandersetzen. Selten lese ich Bücher ganz, sondern bin Meister im Querlesen einerseits und Vertieftlesen der Kernpassagen meines Interesses andererseits. In einem kleinen Lesezimmer mit Blick in den Garten türmen sich Bücher, die ich aus den Regalen der Bibliothek dorthin verschleppe und immer wieder in die Hand nehme. Ich “bin” quasi mit ihnen.


Langsamkeit als Gegenmodell zur Rastlosigkeit

Langsamkeit ist kein Verzicht auf Fortschritt. Sie ist ein Gegenmodell zur Rastlosigkeit, ein Prinzip, das Tiefe und Effizienz miteinander versöhnt. Sie ist der Schlüssel, um die Technologie nicht nur zu nutzen, sondern sie auch zu gestalten – als Werkzeug, das unsere Menschlichkeit unterstützt, statt sie zu erdrücken.

Elif Shafak fordert, dass wir die Langsamkeit nicht nur in unser Denken, sondern auch in unser Fühlen zurückholen. Denn nur in der Verbindung von Verstand und Emotion liegt die Kraft, die Zukunft bewusst zu gestalten. Es ist kein Rückblick in eine nostalgische Vergangenheit, sondern ein Ausblick auf eine mögliche Zukunft, in der wir die Geschwindigkeit unserer Zeit zähmen und die Tiefe unseres Menschseins bewahren.

Am Übergang zu 2025 wünsche ich uns den Mut, die Technologie zu beherrschen, anstatt von ihr beherrscht zu werden. Den Mut, Langsamkeit nicht als Schwäche, sondern als Stärke zu sehen. Den Mut, innezuhalten – um tiefer zu denken, tiefer zu fühlen und die Welt nicht nur zu gestalten, sondern sie auch wirklich zu erleben.

P.S. Mein Leder-Filofax Personal ist mir seit 30 Jahren bis heute heilig. Papier, Bleistift, Radiergummi, so bin ich Herr meiner Termine, auch wenn diese sonst in allen möglichen digitalen und vercloudeten Welten eingepflegt sein mögen.

Eine Antwort auf „Gedanken zur Jahreswende 2024/2025 – Die Langsamkeit als Gegenmodell zur Rastlosigkeit“

  1. Wunderschöner und gleichzeitig hilfreicher Text!

    Diese Gedanken bringen die augenblickliche Situation auf den Punkt, sprechen die eigenen Gefühle an, sind sachlich, zutreffend, nicht wertend und beschreiben die Findung einer Lösung.

    Der Schreibende zeigt durch diesen Text, dass er selbst schon nach der Lösung sucht und schon den Anfang erfolgreich gefunden hat.

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