Ich las gerade einen Artikel mit dem Intro: “Reifenspuren zerstören 1000 Jahre alte Geoglyphen. Geoglyphen sind Relikte vergangener Kulturen: großflächig auf dem Erdboden geformte Linien, die oft nur aus der Luft betrachtet ein Bild ergeben. Jetzt droht das mehr als 1000 Jahre alte Erbe in der Atacama-Wüste zu verschwinden. Reifenspuren von Motorrädern und Jeeps zerstören die Figuren.”
Da packt mich die Wut! Muss das sein? Ist das die Verkommenheit eines Tourismus, wie sie sich leider vielerorten zeigt?
Tourismus war ursprünglich eine Idee, die kulturellen Austausch und individuelle Erlebnisse fördern sollte. Es ging darum, fremde Kulturen kennenzulernen, die Natur zu erleben und sich selbst durch Reisen weiterzuentwickeln. Doch diese gute Idee ist vielerorts zu einem Problem geworden: Over-Tourism überfordert Städte und ländliche Räume, zerstört Natur und entfremdet die Einheimischen von ihrem Lebensraum. Was sind die Ursachen dieser Entwicklung? Und welche Rolle spielen Gier, Kommerzialisierung und ein verändertes Verständnis von Gastfreundschaft?
Die ursprüngliche Idee von Tourismus: Der Wert von Gastfreundschaft
Gastfreundschaft, wie ich sie verstehe, basiert auf Freiwilligkeit und gegenseitigem Respekt. Ein Gastgeber lädt einen Gast ein, bietet ihm Unterkunft, Verpflegung und Zeit – ohne die Erwartung einer materiellen Gegenleistung. Gastgeben ist ein Akt der Großzügigkeit und oft Ausdruck kultureller Traditionen. Ein Gast wiederum ist nicht nur ein Nutznießer, sondern zeigt Dankbarkeit und Respekt für den Gastgeber und dessen Raum.
Der Tourismus in seiner ursprünglichen Form hatte etwas von diesem Geist. Reisende waren selten und wurden oft von den Einheimischen willkommen geheißen, weil sie eine Bereicherung darstellten – kulturell, nicht finanziell. Doch mit der Industrialisierung und Globalisierung wurde diese Beziehung kommerzialisiert. Der Reisende wurde zum zahlenden Kunden, der „Gastgeber“ zum Anbieter von Dienstleistungen. Dieser Wandel markiert den Beginn eines systemischen Problems. Das Vokabular ist ein Widerspruch in sich, denn der Gast ist ein geduldeter Vorüberziehender, der Geld dalässt.
Was lief schief? Die Ursachen von Over-Tourism
Die Wurzeln der negativen Entwicklung des Tourismus sind vielfältig und tiefgreifend:
- Die Industrialisierung des Reisens
Mit der Einführung moderner Transportmittel – angefangen bei Dampfschiffen bis hin zu Billigfluggesellschaften – wurde das Reisen für immer größere Bevölkerungsschichten erschwinglich. Was einst ein Privileg der Reichen war, wurde zu einer Massenbewegung. Diese Demokratisierung des Reisens ist an sich positiv, hat aber dazu geführt, dass immer mehr Menschen die gleichen Ziele besuchen wollen. Die sozialen Medien mit ihren Influencern tragen dazu verstärkt bei. - Die Gier nach Wachstum
Tourismus wurde zu einem wirtschaftlichen Motor, und viele Destinationen versuchten, aus dieser Industrie maximalen Profit zu schlagen. Der ursprüngliche Gedanke, wenige Gäste hochwertig zu betreuen, wich der Idee, möglichst viele Reisende anzuziehen. Dies führte zu einer „immer mehr, immer größer“-Mentalität: mehr Hotels, mehr Restaurants, mehr Aktivitäten – ohne Rücksicht auf die Kapazitäten der Region. - Die Macht der Reiseindustrie
Große Unternehmen wie Reiseveranstalter und Buchungsplattformen spielen eine zentrale Rolle. Sie fördern die Idee, dass Reisen einfach und billig sein sollte. Dies führt zu einer Preisspirale nach unten, bei der Qualität und Nachhaltigkeit zugunsten von Masse geopfert werden. - Die Veränderung der Reisekultur
Reisen wurde zunehmend zu einem Konsumgut. Menschen reisen nicht mehr, um sich intensiv mit einem Ort oder einer Kultur auseinanderzusetzen, sondern um schnelle und oberflächliche Erfahrungen zu sammeln. Der Begriff „Instagram-Tourismus“ beschreibt treffend, wie Menschen oft nur reisen, um Fotos von berühmten Orten zu machen, ohne sich wirklich mit deren Bedeutung auseinanderzusetzen. - Fehlende Regulierung
Viele Regierungen und Gemeinden sahen den Tourismus lange Zeit nur als wirtschaftlichen Vorteil und ignorierten die negativen Konsequenzen. In vielen Regionen gibt es kaum oder keine Regulierungen, die den Tourismus nachhaltig gestalten. Der Fokus auf kurzfristige Gewinne hat langfristige Schäden in Kauf genommen.
Die Folgen von Over-Tourism
Die negativen Auswirkungen dieser Entwicklung sind unübersehbar:
- Zerstörung von Lebensqualität
In Städten wie Venedig, Barcelona oder Dubrovnik fühlen sich Einheimische von Touristen verdrängt. Wohnraum wird knapp, da viele Wohnungen in Ferienunterkünfte umgewandelt werden. In Split werden mit Lücken im Mietrecht Mietverträge abgeschlossen, die den Mieter einer Wohnung verpflichten diesen im Juli und August zu verlassen, um dem Vermieter eine hochlukrative touristische Vermietung zu ermöglichen. Aus jeder “blauen Lagune” wird eine Destination aus dem Boden gestampft. Unglaublich. Die Lebenshaltungskosten steigen, und der Alltag wird durch den Ansturm der Touristen gestört. Gegenüber Bergen ist der Respekt meist völlig erloschen. Sensationsansturm jenseits von Gut und Böse. - Schäden an Natur und Kultur
Viele Naturräume werden durch den Ansturm der Massen unwiederbringlich zerstört. Wanderwege erodieren, Tiere werden gestört, und sensible Ökosysteme leiden unter der Übernutzung. Auch kulturelle Stätten verlieren ihren ursprünglichen Charakter, wenn sie zu Kulissen für den Massentourismus degradiert werden. - Entfremdung vom ursprünglichen Begriff des Gastgebens
Der Tourismus hat die Beziehung zwischen Gast und Gastgeber entmenschlicht. Der Gast ist ein Kunde, der bezahlt und Erwartungen hat. Der Gastgeber wird zu einem Anbieter, der sich auf Profitmaximierung konzentriert. Die Beziehung, die einst von gegenseitigem Respekt geprägt war, ist heute oft anonym und transaktional.
Ist die Gier schuld?
Ein wesentlicher Faktor dieser Entwicklung ist zweifellos die Gier nach immer größeren Profiten. Das Streben danach, möglichst viele Touristen anzuziehen, hat dazu geführt, dass Orte ihre Identität und Nachhaltigkeit geopfert haben. Die Tourismusindustrie hat erkannt, dass sich mit Reisen enorme Gewinne erzielen lassen – doch diese Gewinne kommen oft nur wenigen zugute. Ein Großteil der Einnahmen fließt in die Taschen von großen Konzernen, während die negativen Folgen auf die Einheimischen abgewälzt werden.
Die Gier ist jedoch nicht allein verantwortlich. Auch die Mentalität der Reisenden hat sich verändert. Viele Menschen sehen Reisen nicht mehr als Privileg, sondern als Selbstverständlichkeit. Sie wollen möglichst viel für wenig Geld, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen.
Wie könnte eine Lösung aussehen?
Die Bewältigung von Over-Tourism erfordert einen tiefgreifenden Wandel – sowohl bei den Destinationen als auch bei den Reisenden:
- Nachhaltiger Tourismus
Tourismus muss so gestaltet werden, dass er die Natur, die Kultur und die Lebensqualität der Einheimischen respektiert. Das bedeutet, die Zahl der Besucher zu begrenzen, umweltfreundliche Praktiken zu fördern und die Einnahmen gerecht zu verteilen. - Bildung und Bewusstseinsbildung
Reisende müssen verstehen, welche Auswirkungen ihr Verhalten hat. Bildungsprogramme könnten helfen, ein tieferes Verständnis für die Orte zu fördern, die sie besuchen. - Regulierung durch Regierungen
Destinationen müssen strenge Regeln einführen, um ihre Ressourcen zu schützen. Beispiele sind Eintrittsgelder, Beschränkungen für Kreuzfahrtschiffe oder Obergrenzen für Ferienwohnungen. - Ein neues Verständnis von Gastfreundschaft
Die Beziehung zwischen Reisenden und Einheimischen muss wieder menschlicher werden. Gastgeben sollte wieder mehr bedeuten als nur das Verkaufen von Dienstleistungen. Dies könnte durch kleinere, familiär geführte Unterkünfte und authentische kulturelle Erlebnisse gefördert werden.
Fazit
Over-Tourism ist eine Folge von Gier, fehlender Regulierung und einer entfremdeten Reisekultur. Die ursprüngliche Idee des Gastgebens – basierend auf Großzügigkeit und gegenseitigem Respekt – wurde durch die Kommerzialisierung und Industrialisierung des Tourismus pervertiert. Doch es gibt Hoffnung: Durch nachhaltige Praktiken, Bildung und eine Rückbesinnung auf die Werte der Gastfreundschaft kann der Tourismus wieder zu dem werden, was er ursprünglich war – eine Bereicherung für Reisende und Gastgeber gleichermaßen.